Kann ein Spielfilm über das Massaker am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya seriös sein oder läuft er Gefahr, in das Genre "Horrorfilm" abzufallen? Ist er respektvoll gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen? Diese Fragen stellten sich die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des WEISSEN RINGS Christine Brill und Adelina Michalk, als sie gebeten wurden, für ein Filmgespräch zur Verfügung zu stehen. Das Programmkino 3001 im Schanzenviertel zeigte am vergangenen Sonntag den Spielfilm „Utøya 22. Juli“ des norwegischen Regisseurs Erik Poppe und wollte im Anschluss den Zuschauern die Möglichkeit bieten, über den Film zu sprechen.
Die Ereignisse vor sieben Jahren, auf denen der Spielfilm basiert, bleiben so unvergessen wie unfassbar. Ein rechtsterroristischer Norweger tötete nach vollendeten Anschlägen in Oslo auf der Insel Utøya 69 Menschen, überwiegend Kinder und Jugendliche, die an einem Sommercamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei teilnahmen, und verletzte 33 weitere von ihnen.
Um das sehr sensible Thema filmisch umsetzen zu können und die Zuschauer in das traumatiserende Geschehen einzubeziehen, drehte Poppe in einer Echtzeit von 72 Minuten, genau der Dauer des Massakers, in nur einer Einstellung konsequent aus der Opferperspektive. Die fiktive Handlung bleibt nah bei seiner jugendlichen Hauptfigur Kaja und zeigt ihre Flucht vor den Schüssen, ihre Todesangst und zugleich ihre verzweifelte Suche nach der jüngeren Schwester. Die lebensbedrohliche und zugleich gesichtslose Präsenz des Mörders verdeutlichen die mal entfernten, mal erschreckend nah wirkenden, dumpfen Schüsse. die die Zuschauer unweigerlich zusammenzucken lassen. Aus Respekt vor den Opfern wird, bis auf wenige Ausnahmen, auf die schauspielerische Darstellung getöteter Menschen verzichtet.
Der aufwühlende Spielfilm hinterließ beim Publikum eine Phase der Sprachlosigkeit und ambivalente Gefühle. Diskussionspunkte im Anschluss waren neben inhaltlichen Aspekten auch formale, deren Sachlichkeit eine erleichternde Abgrenzung von dem vorangegangenen emotionalen Sog des Films ermöglichte. Die Zuschauer beschäftigten folgende Aspekte: Wie sinnvoll ist eine Verfilmung dieser unfassbar grausamen Tat? Für welche Zielgruppen ist der Film gedacht? Wie ist die angewandte Dramaturgie des Regisseurs zu bewerten? Ist die Darstellung der Opferperspektive realistisch? Und losgelöst von dem Film: Haben Angehörige und Überlebende eine Chance auf Traumabewältigung? Wie mag es ihnen heute, sieben Jahre nach dem Grauen, gehen? Finden sie zurück in ihr Leben?
Poppes Spielfilm warf viele Fragen auf. Die Meinungen zu der Existenzberechtigung des Spielfilms werden kontrovers bleiben. „Die Ereignisse aus der Opferperspektive zu betrachten, ist aber die denkbar beste Option, einen solchen Film zu inszenieren“, urteilte Adelina Michalk. Dem fügte Christine Brill hinzu: „Da Poppe seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Opfern widmet, setzt er ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen der getöteten Menschen. Dem Täter, der darstellerisch nur schemenhaft und in den Texttafeln des Abspanns bewusst namenlos bleibt, entzieht er rigoros die Plattform.“
Eindringlicher als geschriebene Worte, führt das Medium Film den Zuschauern buchstäblich vor Augen, worin ungezügelter Hass auf eine liberale, multikulturelle Gesellschaft zu gipfeln vermag. Das Attentat hatte nicht nur eine persönliche Dimension für die Opfer und ihre Angehörigen, sondern auch eine politische Dimension für Norwegen und darüber hinaus für Europa. In der heutigen Zeit, in der eine gesellschaftliche Spaltung deutlich wahrnehmbar ist und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zunimmt, stellt Poppes Spielfilm ein eindringliches Instrument dar, um auf die Gefahr hinzuweisen, die sich in ihrer perversesten Form in einem Gewaltexzess äußern kann.